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Der geheime Code der Liebe Seit den Überfällen in der Silvesternacht fühle ich mich nicht mehr sicher

Durch die Ereignisse in Köln wird eine junge Frau erneut an das schlimme Erlebnis erinnert, dass sie selbst mit 17 Jahren hatte. Nun hat sie Angstzustände und kann nicht mehr schlafen. Julia Peirano weiß, was zu tun ist.

Liebe Frau Peirano,
ich (w, 21) bin völlig fertig, seit ich in den Nachrichten von den schlimmen Ereignissen in der Silvesternacht gehört habe. Ich wohne selbst im Großbereich Köln und hatte Silvester sogar kurz überlegt, mit der Bahn zu fahren, bin dann aber mit dem Auto gefahren.
Ich muss dazu sagen, dass ich vor vier Jahren von drei Osteuropäern vergewaltigt worden bin, bei Tag in einer ganz normalen Wohngegend. Ich habe das bisher nur meinen Eltern erzählt. Ich habe große Probleme mit meinem Körper, fühle mich fett und hässlich, weil die drei Männer mich auch beschimpft und ausgelacht haben. Ich kann mich anderen Männern nur sehr vorsichtig nähern und habe auch beim Sex Probleme. Ich brauche sehr lange, bis ich mich sexuell etwas entspannen kann.
Ich habe die Vergewaltigung damals nicht angezeigt, weil ich das einfach nur vergessen wollte. Leider ist durch "Köln" jetzt alles wieder hochgekommen, und ich habe panische Angst, dass man als Frau heute nicht mehr sicher ist. Ich gehe sowieso nur sehr vorsichtig und in Begleitung von Freundinnen aus, aber jetzt??? Ich bin richtig nervös, suche dauernd die Straßen nach Gefahren ab, kann nicht mehr richtig schlafen und sehe nachts immer wieder meine Vergewaltigung vor mir und die Bilder in Köln.
Wie kann ich damit umgehen?
Viele Grüße
Karen G.

Liebe Karen G.,
die Ereignisse der Silvesternacht in Köln und Hamburg sind erschütternd und schändlich. In erster Linie ist es furchtbar für die betroffenen Frauen! Aber die Bilder und Berichte von diesen Ereignissen führen bei allen Menschen, und insbesondere den Frauen, zu Schock, Mitgefühl und Angst. Die Bildsprache der Ereignisse ist stark: Frauen wurden wie Freiwild zusammengetrieben, von Hunderten von Männern umzingelt, und dann begrapscht, verhöhnt, bestohlen und wohl in Einzelfällen auch vergewaltigt.
Das ist ein erschreckender neuer Meilenstein in der Gewalt gegen Frauen. Und das Schlimme ist: Wenn jemand eine Gewalttat begeht, dann trifft die Energie des Täters auch die, die davon erfahren. Das führt zu Gefühlen der Hilflosigkeit, des Misstrauens, des Ausgeliefert-Seins und der Angst. Es wurden grundsätzliche Spielregeln missachtet, die man schon im Kindergarten lernt: "Zwei gegen einen ist gemein" und "Mädchen darf man nicht hauen". Im Gegenteil: Die Gewalt war vorsätzlich, geplant und hatte das Ziel, im Schutz der Anonymität die Frauen zu demütigen.
Sehr fatal ist es für die Verarbeitung dieser Ereignisse, dass die Frauen von keinem geschützt oder gerettet wurden. Sie waren den Tätern unsichtbar und hilflos ausgeliefert, und keiner hat sie aus der Situation befreit. Bis heute stehen die Chancen sehr gering, die Täter zu fassen und zu bestrafen.
Außerdem waren hier keine Einzeltäter am Werk, sondern eine große Gruppe. In den kollektiven Ängsten vieler Frauen heißt das: Es kann dir (oder deiner Tochter, Freundin, Schwester) überall und an jeder Ecke das gleiche passieren, und keiner hilft dir.
Ich möchte damit sagen, dass diese Ereignisse sehr schwer zu verarbeiten oder beiseite zu wischen sind, weil sie so bedrohlich und hochaggressiv sind.
Und Sie, liebe Karen, kennen diese ganzen furchtbaren Gefühle, weil Sie selbst in einer ähnlichen Situation gewesen sind: Mit 17 Jahren hilflos ausgeliefert, überfallen, beschimpft und vergewaltigt am helllichten Tag, ohne dass Ihnen jemand zu Hilfe gekommen ist. Es erfordert sehr viel Kraft, so ein Ereignis zu verarbeiten. Bei Ihnen liegt ein unverarbeitetes Trauma vor, dass Sie bisher immer wieder unter den Teppich geschoben haben. Durch die vielen Parallelen zwischen den Ereignissen in Köln und Ihrer eigenen Geschichte wird Ihr Unbewusstes wieder an Ihre eigene Geschichte erinnert - und meldet sich mit Ängsten, Stress und Schlaflosigkeit. Schlaflosigkeit steht übrigens für den Verlust der Geborgenheit, das wird Sie wahrscheinlich nicht wundern.
Ich denke, dass beides zusammen (das alte Trauma und die Erinnerung daran) sehr belastend sind. Deshalb empfehle ich Ihnen, sich um die Verarbeitung Ihres eigenen Traumas zu kümmern und sich schnellstmöglich eine gut ausgebildete und Ihnen sympathische Therapeutin zu suchen. Da es bei Ihnen sehr dringend ist, kann es gut sein, dass Sie schnell einen Therapieplatz bekommen. Empfehlenswert ist es, wenn diese eine Ausbildung in EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) besitzt, da diese Therapieform gut geeignet ist, um traumatische Ereignisse zu verarbeiten.
Im Alltag würde ich Ihnen empfehlen, sich erst mal eine Woche krank schreiben zu lassen und sich in einem geschützten Raum (Ihrer eigenen Wohnung? Bei Ihren Eltern? Bei einer Freundin?) viel Zeit für sich zu lassen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Lenken Sie sich ab (z. B. mit Büchern, malen, spazierengehen) und sprechen Sie über Ihre Ängste, um diese zu verarbeiten. Ich rate Ihnen, erst einmal keine Nachrichten zu schauen. Kaufen Sie sich eine Entspannungs- oder Achtsamkeits-CD, z. B. von Jon Kabbat-Zinn und nehmen Sie ggf. auch ein Schlafmittel oder starken Baldrian zum Schlafen. Es ist wichtig, dass Sie wieder schlafen, denn sonst bleiben Sie weiterhin nervös und aufgewühlt.
Ich wünsche Ihnen alles Gute
Ihre Julia Peirano

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