Sehr geehrte Frau Peirano,
Ich lebe seit 5 Jahren mit einem Mann zusammen, insgesamt sehr glücklich, wie ich finde. Wir haben eine gemeinsame Wohnung, viele ähnliche Interessen und einen tollen Freundeskreis.
Vor einiger Zeit haben wir über das Thema "offene Beziehung" gesprochen. Zunächst sehr abstrakt, aber durchaus nicht abgeneigt. Er hat die Gelegenheit gleich beim Schopfe gepackt und auf einer Dienstreise seinen Spaß mit einer anderen Frau aus dem gleichen Hotel gehabt. Eine einmalige Geschichte, die mich nicht gestört hat. Im Gegenteil, wir haben uns eher in der Annahme bestätigt gefühlt: "Offene Beziehung, das könnte was für uns sein."
Letzte Woche haben wir uns nochmal zusammengesetzt um die Details zu klären. Dabei kam es dann zum großen Streit. Ich fand, Gefühle dürfen nicht im Spiel sein, er hat gemeint, dann mache das Konzept ja überhaupt keinen Sinn. Ich war erstaunt, dass wir so vehement über abstrakte Regeln diskutieren. Gestern hat er mir dann gestanden: Er hat sich in eine Kollegin verliebt, sie scheinbar auch in ihn. In der Annahme, es wäre für mich okay, hat er ihr erklärt, dass wir eine offene Beziehung führen und das alles kein Problem sei. Ich fühle mich nun total überrannt. Würde am liebsten komplett auf Abstand gehen, habe aber Angst ihn dadurch zu verlieren. Auf mein klares "Nein!" hat er mir versichert, er würde mit ihr nichts anfangen, wenn ich es nicht will. Er wird nun mit ihr sprechen und ihr erklären, dass er mich missverstanden hätte. Ich bin trotzdem verängstigt, verunsichert und glaube ihm nicht, dass unsere Beziehung nicht in Gefahr ist.
Wie gehe ich sinnvoll mit dieser Situation um?
Viele Grüße
Anita
Liebe Anita,
kein Wunder, dass Sie sich überrannt fühlen! Es hört sich für mich so an, als wenn Sie in einer Phase waren, in der das Thema "Offene Beziehung" erst einmal nur ein Gedankenspiel war und noch nicht konkret. Sie hätten noch Zeit und einige Gespräche gebraucht, um sich dafür oder dagegen zu entscheiden. Und bevor sie das innerlich geklärt haben, legt Ihr Mann schon los und hat einen One-Night-Stand- und kurz darauf verliebt er sich in eine andere Frau.
Das ist ungefähr so, als wenn ein Paar darüber nachdenkt, ob es sich vielleicht ein Haus kauft - und während der eine noch in das Schaufenster des Maklers schaut und sich demnächst nach Zinsen für den Kredit erkundigen möchte, kommt der andere und sagt: "Schatz, ich habe ein Haus für mich alleine gekauft!" Ich finde es sehr verständlich, dass Sie sich da überrumpelt fühlen und sich jetzt erst einmal sortieren müssen. Kein Mensch wird gerne vor vollendete Tatsachen gestellt, wenn er gerne selbst entscheiden wollte.
Und offene Beziehung sind, das brauche ich Ihnen nicht zu sagen, in der Theorie für viele Menschen interessant. Denn sie lösen das Problem, dass sehr viele Menschen sich eine Langzeitbeziehung wünschen (und nach einiger Zeit dort etwas langweilen) und gleichzeitig ihre Sehnsucht nach Eroberungen und Abenteuern nebenbei in Liebschaften ausleben möchten.
Natürlich ist das risikobehaftet, sonst würden es ja alle Menschen "einfach so" machen. Wer garantiert einem, dass man seine Gefühle unter Kontrolle hat, wenn man erst einmal mit einem neuen, fremden Partner Sex hatte?
Deshalb ist Vertrauen in offenen Beziehungen fast noch wichtiger als in exklusiven Beziehungen. Ein Paar, das eine offene Beziehung führen möchte, muss genau aushandeln, was für beide in Ordnung ist und was nicht. Es muss Spielregeln festlegen, und im Gespräch darüber bleiben, wie sich das, was man tut oder tun möchte, für den Partner anfühlt.
Das, was Ihr Freund gemacht hat, hört sich für mich nach Einfach-Drauf-Los-Leben an. Er hat, wie es mir vorkommt, wenig Zeit zu verlieren und ist voll durchgestartet. Er hatte unverbindlichen Sex, jetzt hat er sich verliebt und möchte etwas beginnen, ohne zu wissen, wohin das führen wird. Und für all das möchte er gerne Ihren Segen haben.
Ich kann verstehen, dass Sie sich bedroht fühlen. Ihnen schwimmen in dieser Situation die Felle davon, und dieser Kontrollverlust ist schwer zu ertragen. Denn Ihre Erfahrung wird Ihnen sagen, dass kaum ein Mensch auf seinen Partner achtet, wenn er verliebt ist.
Deshalb rate ich Ihnen, dass Sie zumindest über Ihre eigene Grenzen wieder Klarheit und Kontrolle gewinnen.
Reden Sie mit Ihrem Freund ein offenes Wort. Am Besten, Sie frieren das Projekt "offene Beziehung" erst einmal ein , dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Man braucht, wie gesagt, viel Vertrauen dafür! Sagen Sie Ihrem Freund, dass Sie sich zur Zeit eine ausschließliche, treue Beziehung wünschen, so lange, bis Sie aus dieser Krise heraus sind und wieder Sicherheit verspüren. Und erst wenn das der Fall ist (in einigen Monaten oder sogar noch später), käme dann der zweite Schritt: Noch einmal von Grund auf über eine offene Beziehung nachdenken und klare Spielregeln verhandeln. Und nur wenn sich das wirklich gut anfühlt, sollten Sie es auch in die Tat umsetzen, zu einem Zeitpunkt, der stimmig ist.
Zur Zeit wäre es fatal und würde im Chaos enden, wenn Sie Ihrem Freund einen Freifahrtschein für seine Nebenbeziehung geben. Wenn Sie das klar gestellt haben, ist es Ihrem Freund überlassen, ob er auf Sie hört und darauf verzichtet- oder ob er heimlich mit seiner Kollegin etwas anfängt. Aus meiner Sicht wäre das jedoch ein deutliches Zeichen, die Beziehung zu beenden, denn der Schuss wäre gänzlich nach hinten losgegangen. Sie haben mit Ihrer Bereitschaft zu einer offenen Beziehung und auch dem Verständnis für seinen One-Night-Stand im Hotel ausgedrückt, dass Sie ehrlich und offen miteinander umgehen wollen. Aus meiner Sicht wäre ein "klassischer" Betrug mit Lügen und Heimlichkeiten da völlig fehl am Platz, da er die Toleranz, die Sie ihm entgegen bringen, nicht respektiert.
Ich hoffe für Sie, dass Ihr Freund die Reißleine ziehen kann und Sie gemeinsam ein paar Schritte zurück gehen können, um von dort in neue Ufer aufzubrechen.
Herzliche Grüße
Julia Peirano
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Herzliche Grüße
Julia Peirano
