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Das Glück ist ein Turnschuh Der Tag danach

Es war der Tag der Wahrheit: Ich wollte mit meinem Sohn vier Meilen durch New York laufen, fast ohne Training - nicht grad die vernünftigste Entscheidung, wie ich schnell herausfand.

Schon nach 20 Metern verabschiedet sich mein elfjähriger Sohn Jakob: „Ich warte im Ziel auf dich.“ Und weg ist er. Den Versuch, ihn vielleicht nicht ganz aus den Augen zu verlieren, gebe ich nach etwa einem Kilometer hächelnd auf. Denn ich weiß, wenn ich so weiter über mein Limit renne, kann ich gleich mit Seitenstechen gar nicht mehr.

Es war sicher nicht die vernünftigste Entscheidung, fast ohne Lauftraining bei einem vier Meilen Run zu starten. Und hätte ich gewusst, das die Strecke so viele kleine Hügel und Anstiege hat, wäre ich vermutlich nicht angetreten. Aber ich wollte Jakob die Freude machen, ohne Begleitung durch einen Erwachsenen hätte er nicht mit laufen dürfen. Anders als ich, hat er mit seinem Laufclub in den letzten Monaten regelmäßig trainiert.

Vor mir liegen also vier mächtige Meilen, etwa 6,4 Kilometer. Viel Weg und Zeit, um demütig zu werden. Beim Start an diesem sonnigen Morgen in Scarsdale, einem Vorort von New York, bin ich aber noch selbstbewusst. Wird schon nicht so schlecht sein, meine Kondition. Ich habe ja schließlich Basketball gespielt. Und, dass wir da nie Lauftraining gemacht haben, ist doch egal. Wird schon gehen. Irgendwie. Das berühmte Pfeifen im Walde.

Die erste Schramme bekommt mein Ego, als gleich beim Start im Grunde alle an mir vorbeiziehen. Und als dann mein Sohn noch verschwindet, bin ich in der Realität angekommen. Laufen ist eine ehrliche Sportart. Heute ist für mich kein Tag für Rekorde. Heute geht es ums Ankommen.

Dabei hilft mir ein Spruch von Professor Klaus-Michael Braumann. Er ist Sportmediziner an der Uni Hamburg und für Artikel habe ich ihn in den letzten Jahren immer gerne interviewt. Sein Mantra ist: „Es geht nicht darum, wie schnell Sie rennen, Hauptsache, Sie kommen in Bewegung.“

Statt durchzuziehen und über alle Schmerzen hinweg zu laufen, versuche ich deswegen ein Tempo zu finden, in dem ich mich wohl fühle. Dass mich nicht total atemlos werden lässt. Es fällt mir nicht leicht. Ja, es ist verdammt langsam. Wie gerne würde ich schneller können. Und die alte Dame vor mir überholen, die doch am Start noch so schwach und unfit aussah. Schritt für Schritt muss ich mich damit abfinden, dass es keine geheimen Reserven gibt, die ich abrufen könnte. Die erste Meile dauert so gefühlt eine Ewigkeit. Ich bin gefrustet und schimpfe ein bisschen mit mir selbst

Nach der zweiten Meile freue ich mich: Rückweg. Der langsame Schritt ist schon mehr zu Rhythmus geworden. Nichts tut mehr weh, das Atmen fällt viel leichter. Zum ersten Mal das Gefühl: Es könnte was werden mit mir und den vier Meilen. Zeit zu genießen.

Bei Meile drei kann ich schon mit einem Mitläufer plaudern. Ich kann Haupt- und Nebensätze flüssig formulieren. Wieder so ein Tipp von Professor Braumann: Wer reden kann, ist im richtigen Tempo unterwegs.

Und dann Meile vier. Jakob steht im Ziel. Er ist natürlich schon ewig da. Ich freue mich für ihn - und für mich: Geschafft. Ich habe tatsächlich durchgehalten.

Nun der Tag danach. Die Medaille, die jeder Teilnehmer am Ende bekam, hängt an meiner Schreibtischlampe. Im Laufe der Jahre habe ich schon einige gesammelt, aber über diese freue ich mich besonders. Immer wenn ich sie anschaue, muss ich lächeln. Ein schönes Gefühl.

Einige Teile meines Körpers sind heute älter als der Rest. Die Knie zum Beispiel. Und die Oberschenkel. Aber es ist weniger schlimm, als ich es erwartet hätte. Trotzdem ist das sanfte Ziehen in den Muskeln meine Mahnung, ab sofort wieder regelmäßig zu trainieren. Mir endlich den Winter aus dem Körper zu laufen. Und ehrlich gesagt, seit gestern früh freue ich mich richtig darauf.

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