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Der Investigativ-Blog Sonnige Gedanken auf Rügen?

Der Investigativ-Blog: Sonnige Gedanken auf Rügen?

Depressionen werden nirgends in Deutschland so selten diagnostiziert wie auf der Urlaubsinsel Rügen. Klingt einleuchtend. Aber so einfach ist die Sache nicht, wie der Besuch auf der Insel zeigt. Ein Recherchebericht.

Am Anfang war da nur eine Tabelle, mit einem Prozentwert für jeden Landkreis und jede kreisfreie Stadt: Bei wie vielen von 100 Krankenversicherten wurden im Jahr 2007 Depressionen diagnostiziert? Berechnet hatte die Statistik das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) mithilfe eines riesigen Datensatzes zu den Arztbesuchen aller gesetzlich Versicherten. Auf diese Studie waren wir in der Redaktion besonders gespannt. Denn gerade zu psychischen Erkrankungen gibt es so gut wie nie belastbare Zahlen. In unserem Gesundheitsatlas aber wollten wir sie auf keinen Fall unter den Tisch fallen lassen.

Die Rangliste aller Kreise
Also knüpften wir uns die Depressions-Diagnosen vor. Schon bei der ersten Sortierung stand Rügen ganz oben – nur 5,5 Prozent der Krankenversicherten litten hier offenbar an depressiven Episoden, im bundesweiten Durchschnitt ist diese Diagnose fast doppelt so häufig. Auf den ersten Blick lässt sich dieser eindrucksvolle Extremwert gut erklären. Kaum Schwermut dort, wo mehr als eine Million Touristen pro Jahr Erholung suchen und mehr Sonnenstunden gezählt werden als fast überall sonst in Deutschland. Wer Rügen nur als Urlaubsziel kennt, sieht sich in allen Vorurteilen bestätigt und glaubt der Statistik gern.

Die Visualisierung
Um neben den Extremwerten noch andere Muster zu erkennen, landeten die Daten dann auf einer Deutschlandkarte. Jeder Kreis war nun eingefärbt, Regionen mit häufigen Depressions-Diagnosen leuchteten rot, grün stand für geringe Prozentwerte. Und nicht nur Rügen erstrahlte in einem satten Grün, sondern auch viele andere Landstriche in Ostdeutschland. Noch ein spannendes Ergebnis. Aber eines, das sich nüchtern betrachtet mit der Situation der häufig sozialschwächeren Regionen kaum übereinbringen lässt.

Der Investigativ-Blog: Sonnige Gedanken auf Rügen?

Die Recherche vor Ort
Doch letztlich ist es egal, ob eine Erkenntnis in der Datenauswertung sich mit dem deckt, was man schon weiß oder sich so denkt – auf Herz und Nieren prüfen muss man sie in jedem Fall. Also nach weiteren Studien zum Thema suchen, Experten befragen und vor Ort nach den Ursachen forschen. Dabei half Volker Riegas. Er kennt beide Seiten. Denn der Psychotherapeut führt eine eigene Praxis in Bergen auf Rügen, hat aber auch schon in Nordrhein-Westfalen gearbeitet. Sein Urteil: Da stimmt etwas mit den Rohdaten nicht. Denn Depressionen seien aus seiner Sicht auf Rügen nicht seltener als in Westdeutschland, die Menschen gingen damit nur seltener zum Arzt – etwa weil sie psychische Probleme traditionell eher mit sich selbst ausmachten oder aus Angst vor Nachteilen am Arbeitsplatz.

Hinzu kommt eine relativ geringe Dichte an Psychiatern und Psychotherapeuten in den meisten ostdeutschen Kreisen. Auch das war ein Ergebnis der ZI-Studie: Wo weniger Experten vor Ort waren, wurde die Diagnose "Depression" auch seltener gestellt. Weitere Einflussfaktoren waren laut der Studie auch der Anteil an Alleinlebenden und der Bildungsstand der Bevölkerung.

Ein komplexes Ergebnis
Während des Gesprächs mit Volker Riegas auf Rügen und der weiteren Recherche wurde also immer deutlicher: Offenbar steckt in den Daten viel mehr als nur die Häufigkeit depressiver Erkrankungen. Vor allem ein unterschiedlicher Umgang mit diesem Thema und die Verfügbarkeit qualifizierter Anlaufstellen in der Nähe scheinen mitzubestimmen, wie viele Depressionen diagnostiziert werden.

Dieses Ergebnis ist natürlich vielschichtiger als die einfache Nachricht, auf Rügen seien die Menschen eben besonders selten schwermütig. Aber genau das macht datenbasierte Recherchen so spannend. Am Anfang besteht jedes Thema aus nüchternen, in Tabellenform gegossenen Ziffern. Wer dann kritisch bleibt und sich die Wirklichkeit hinter der Statistik genauer anschaut, entdeckt nicht selten ganz neue Dimensionen und größere Zusammenhänge. Die zeigen sich am deutlichsten an Extremen wie Rügen, das wohl nicht nur mit reichlich Sonne gesegnet ist, sondern auch mit Schattenseiten.

Wie gesund ist Ihre Region?
Den kompletten Gesundheitsatlas mit Analysen und Deutschlandkarten zu Lebenserwartung, Herzkrankheiten, Lungen- und Brustkrebs, Rückenleiden und Depressionen finden Sie im aktuellen stern. Online haben wir für Sie die Karten interaktiv aufbereitet und mit weiteren Gesundheitsindikatoren ergänzt.

von Christina Elmer

Foto: Stefan Sauer/dpa; Georg Kranz

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