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Der Investigativ-Blog Wo sind die 220 untergetauchten Rechtsextremisten?

Der Investigativ-Blog: Wo sind die 220 untergetauchten Rechtsextremisten?

Flüchtige Neonazis können die Terroristen von morgen sein. Aber die Behörden kennen immer noch nicht ihre präzise Zahl. Frühestens im Herbst soll sich das ändern.

Es gibt führende Verfassungsschützer, die sich vor einem neuen NSU fürchten. Sie halten es für denkbar, dass eine Zelle von untergetauchten Neonazis aktuell unter dem Radar der Behörden lebt und Gewalttaten plant. Irgendwo in Deutschland. So wie das mutmaßliche Terrortrio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe es von 1998 bis 2011 vormachte. Seit Januar 2012 bemüht sich das Bundesinnenministerium aus allen verfügbaren Dateien von Bundeskriminalamt und den Landeskriminalämtern eine saubere Zahl der untergetauchten Rechten zu ermitteln. Dabei gab es immer wieder Unschärfen, weil die Bundesländer keine sauberen Daten lieferten. Jetzt gibt es frische Zahlen.

Offene Haftbefehle gab es bei "22o Personen mit Bezügen zur PMK-rechts" (rechtsextrem politisch motivierte Kriminalität) heisst es in einer Antwort des Innenministeriums auf eine kleine Anfrage (pdf) der Linke-Abgeordneten Ulla Jelpke, die dem stern vorliegt. Gegenüber der letzten Zählung im November 2012 hat sich ihre Zahl also um rund 40 erhöht verringert. Von den damals 266 Gesuchten waren im Februar 2013 allerdings nur noch 182 auf der Flucht. Die jetzt vorgelegten Zahlen von Anfang Juli und Anfang August sind weiterhin nur bedingt aussagekräftig, was sie nicht weniger beunruhigend macht.

Mindestens 46 Personen werden ausschließlich oder teilweise wegen rechter Delikte gesucht. Ein knappes Fünftel der Gesuchten ist bereits durch Gewaltdelikte aufgefallen, in mindestens acht Fällen mit rechtsextremer Motivation. Im "Polizeilichen Informationssystem INPOL-Z" sind 66 der 220 gesuchten Personen als "Gewalttätig" vermerkt. In dem Dateisystem "NADIS WN" der Verfassungsschutzämter sind 55 54 der 220 Untergetauchten als "Rechtsextremisten" gespeichert, von denen 12 "grundsätzlich gewaltbereit" sind. Mehrfachnennungen sind hierbei möglich.

Aufschlußreich für den Zustand der Naziszene sind die Detailkenntnisse des Verfassungsschutzes über eine Untergruppe von 55 54 Rechten: Sechs Personen haben Bezüge zur Kameradschaftsszene bzw, zum freien neonazistischen Spektrum, drei haben Verbindungen zur rechtsextremistischen Musikszene, drei zählen zur NPD oder ihrem Umfeld und sechs Personen haben Kontakt zu ausländischen, rechtsextremistischen Organisationen.

Verwirrung herrscht weiter bei der vielfachen Buchführung in zusätzlich zwei weiteren Datenbanken, nämlich der Datei "Gewalttäter Rechts" und der "Rechtsextremismusdatei (RED)". Immerhin werden ein Hitlergruß oder eine Hakenkreuzfahne jetzt einheitlich als rechte Straftat gezählt. Das war in der Vergangenheit nicht so.

Die Abgeordnete der Linken, Ulla Jelpke, zieht nach der fünften kleinen Anfrage an die Bundesregierung zu diesem Thema trotzdem eine gemischte Bilanz: "Unsere ständigen Anfragen zeigen Wirkung und haben die Innenminister veranlasst, das Chaos bei der Erfassung anzugehen und die Kriterien endlich anzugleichen. Kein Verständnis habe ich dafür, dass ausgerechnet Nordrhein-Westfalen als größtes Bundesland die aktuelle Übersicht sabotiert und sich weigert, die Haftbefehle nach PMK-Delikten einzuordnen."

Demnächst könnte das Datenwirrwarr endlich beendet werden. In der Antwort auf die kleine Anfrage deutet Staatssekretär Ole Schröder einen Beschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder an: "Eine erste Erhebung offener Haftbefehle aus allen PMK-Phänomenbereichen nach diesen neuen einheitlichen Kriterien könnte dann im Herbst 2013 erfolgen."

Dann wird es hoffentlich eine klare Datenbasis geben, um potenzielle Rechtsterroristen zu benennen. Und wie viele linksextreme und ausländische Straftäter untergetaucht sind, weiß man dann übrigens auch.

von Dirk Liedtke

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Foto: dpa

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