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Hans-Martin Tillack EU, Dein Wille geschehe

Allgemeine Aufregung. Warum? Das Land Berlin hat dem EU-Reformvertrag nicht zugestimmt. Ja
und? Warum eigentlich nur Berlin?

Heute ist der Tag der Hyperventilation. Berlin habe sich „gegen Europa“, ja gegen den „Internationalismus“ ausgesprochen, schreiben als
seriös geltende Zeitungen
. Warum? Weil sich das Land Berlin auf Druck der Linken im Bundesrat beim Thema EU-Reformvertrag im Bundesrat enthalten hat. Nur enthalten! Als einzige!

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla macht prompt eine „europafeindliche Stimmung“ aus. Die Grünen-Fraktionschefin Renate Künast brandmarkt die Berliner Entscheidung als Nein „zu einem vereinigten und
friedlichen Europa“.Mon dieu. Weiß sie, wovon sie spricht?

Über den Linken-Vorsitzenden Oskar Lafontaine lässt sich wenig Gutes sagen. Aber dank ihm enthüllt die Debatte um das Berliner Abstimmungsverhalten eins: Das Niveau der hiesigen Europadiskussion ist weiter in einer Sphäre angesiedelt, die so tief unter Normalniveau und Normalnull liegt und so nah am Erdkern, dass die Gehirnzellen der Beteiligten allesamt komplett weg geschmort sind.

Beim Thema EU reagieren große Teile der hiesigen Eliten bis heute mit dem Nickreflex: Was immer aus Brüssel kommt, ist zu begrüßen. Wer gegen Brüsseler Beschlüsse argumentiert, ist gegen Europa. Brüssel, Dein Wille
geschehe!

Diese Haltung ist nicht nur intellektuell primitiv. Sie ist geradezu demokratiefeindlich. Warum, in Jean Monnets Namen, sollte ein neuer EU-Vertrag nicht offen für Kritik sein – aus den unterschiedlichsten Gründen?
Warum können wir es in Deutschland nicht ertragen, wenn einige nicht in den „Dauerjubel“ (Udo di Fabio) für die EU-Institutionen einstimmen wollen, der hierzulande beim Thema Europa obligatorisch scheint?

Angenommen, wir diskutierten über eine neue Fassung des Grundgesetzes. Angenommen diese neue Verfassung wäre ohne größere öffentliche Diskussion von den Staatskanzleien der Bundesländer ausgehandelt worden.
Angenommen, dieser Text hätte gravierende Mängel. Angenommen, er würde trotzdem nur von einigen versprengten Geistern kritisiert. Würden wir dann auch die Versprengten attackieren? Oder nicht doch eher die übermächtigen Befürworter, die geifernd auf jede Kritik reagieren?

Um was geht es bei diesem so genannten EU-Reformvertrag? Es geht um den Extrakt eines Verfassungsvertrags, der vor drei Jahren bei Volksabstimmungen in den europäischen Kernstaaten Frankreich und Niederlande jämmerlich durchfiel – nach ausführlichen öffentlichen Debatten, die wir in dieser Qualität zum Thema EU in Deutschland nie hatten.

Es geht um einen Vertrag, der keinerlei ernsthafte Lösung für das größte und drängendste Problem der EU bietet – das berechtigte Misstrauen der Bürger gegen die
Brüsseler Bürokratie. Er bringt keinen echten Fortschritt Richtung Demokratisierung des EU-Regimes. Er schafft keine parlamentarische Opposition im EU-Parlament. Richtig, die Volksvertretung bekommt ein paar mehr Rechte. Aber die Exekutive – nämlich die EU-Kommission – wird weiterhin von den EU-Regierungen vorgeschlagen. Sie kann selbst vom Parlament nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit abgewählt werden.

Dieser Vertrag schafft einen neuen so genannten EU-Präsidenten, der keinem Parlament dieser Erde verantwortlich sein wird.
Trotzdem wird er in deutschen Gazetten immer wieder als „gewählter Präsident“ bezeichnet, in absurder Verwirrung der Begriffe.

Die deutsche Regierung bekommt nach diesem Text zwar etwas mehr Einfluss im Ministerrat, doch die Bürger dieses Landes verlieren drei Abgeordnete im Europaparlament, womit sie noch grotesker unterrepräsentiert sein werden, als heute schon. Und: Künftig wird Deutschland zeitweise nicht mal einen einzigen EU-Kommissar stellen, trotz seiner Bevölkerungsstärke.

Wer diesen Vertrag ablehnt, ist kein Europagegner, wie jetzt Politiker aller Couleur in einer Hysterie der Hundertprozentigen verkünden. Wahr ist: Diejenigen, die diesen Vertragstext und seinen gescheiterten
Vorläufer formulierten, meinten es nicht gut mit Europa. Sie meinten es gut mit ihren eigenen privilegierten Einflussmöglichkeiten – die EU-Kommissare, Europaabgeordneten und Regierungsvertreter, die heute in Brüssel kontrollfrei agieren können, wie das in keinem Mitgliedsstaat der EU möglich wäre.

Ein Staat, der organisiert wäre wie die EU laut Reformvertrag, hätte keine Chance, je selbst in die Union aufgenommen zu werden. Das ist ein Fakt. Aber um Fakten geht es in der gegenwärtigen Diskussion nicht. Schon das Wort Diskussion ist irreführend. Dafür bräuchte es Streit, Konflikt, Dissonanz. Dazu ist dieses Land nicht in der Lage. Nicht beim Thema Europa.

„Ach Europa“, hieß vor 21 Jahren ein berühmtes Buch von Hans Magnus Enzensberger. Heute müssten wir sagen:

Ach Deutschland

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