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Hans-Martin Tillack Wie atombombensicher ist das G36?

Was passiert mit dem Gewehr G36, wenn in der Nähe eine Atombombe explodiert? Nein, das ist keine makabre Scherzfrage. Die Bundeswehr hat das Thema ausdrücklich behandelt.

„Die Waffe muss gegen die Wirkungen von Atomdetonationen wenigstens so weit gehärtet sein, dass sie nicht eher ausfällt als das Bedienungspersonal“ – so bürokratisch kalt steht es wörtlich in der sogenannten Taktisch-Technischen Forderung (TTF) des Militärs für das G36. Das Verteidigungsministerium hat das Papier jetzt dem Haushaltsausschuss des Bundestages übermittelt.

Dass das G36 nicht mehr sicher trifft, wenn mehr als 60 Schuss abgefeuert wurden, wenn es zu lange in der Sonne liegt oder die Luftfeuchtigkeit zu hoch ist – das weiß die ganze Nation, seit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) Ende März - nach langem Leugnen – die „Präzisionsprobleme“ einräumte.

Aber was ist mit dem Gewehrgehäuse aus Kunststoffkomposit, wenn der Atomkrieg ausbricht? Dass dieses Thema in der aus dem Jahr 1993 stammenden Taktisch-Technischen Forderung behandelt wurde, scheint denjenigen recht zu geben, die jetzt abwiegeln und sagen, die Waffe stamme eben aus der Zeit der Blockkonfrontation. Aus jener Ära also, in der man Kriege glaubte mit Panzerarmeen und Interkontinentalraketen austragen zu müssen. In der die Soldaten der Bundeswehr sich auf Einsätze in der norddeutschen Tiefebene einstellten und nicht auf Partisanenkriege in Afghanistan.

Aber diese Deutung ist falsch – auch wenn zur Zeit einige unterwegs sind, die meinen, das Gewehr und sein Hersteller Heckler & Koch würden ungerecht behandelt. Dessen Besitzer und Chef Andreas Heeschen machte vergangene Woche sogar persönlich einigen Bundestagsabgeordneten die Aufwartung. Im Schlepptau hatte er einen Juristen und eine Lobbyistin der Beratungsagentur Apco. So versuchte er die Volksvertreter zu überzeugen, dass man der Bundeswehr mit dem G36 ein taugliches Standardgewehr geliefert habe.

Heckler & Koch hat im Lauf von vier Wochen sage und schreibe sechs verschiedene bis zu zehnseitige Pressemitteilungen zum Thema G36 veröffentlicht – und zugleich einige heiß diskutierte Themen beharrlich ausgespart. Zum Beispiel die Frage, warum das Wehrwissenschaftliche Institut der Bundeswehr weichmachende Beimischungen von Polyethylen im Plastikkomposit des Gehäuses entdeckte – obwohl die offiziellen Technischen Lieferbedingungen ausdrücklich nur glasfaserverstärktes Polyamid vorsehen. Einzige Antwort des Herstellers dazu bisher: Die „Werkstoffkonfiguration“ sei stets mit der Bundeswehr abgestimmt gewesen.

Verwirrung herrscht auch in einigen Zeitungsredaktionen. So verteidigte zum Beispiel die Zeitschrift „Focus“ das G36 mit diesen Worten: „Das Sturmgewehr ist gar nicht für Dauerfeuer vorgesehen“, behauptete das Münchner Magazin – wie einige andere Zeitungen - am Wochenende.

Mit der inzwischen bekannten Aktenlage passt das nicht ganz zusammen. In der erwähnten Taktisch-Technischen Forderung aus dem Jahr 1993 ist der Einsatz des Gewehrs im „Dauerfeuer“ ausdrücklich aufgeführt, ebenso der Einsatz in heißen Klimazonen. Anders als das von der Leyen noch vor wenigen Wochen öffentlich behauptete, waren damals Auslandseinsätze der Bundeswehr keine ferne Zukunftsmusik. Bundeswehrsoldaten schwitzten seit 1993 in der Sonne von Somalia. Und das G36 war damals zunächst sogar explizit und ausschließlich für die neuen Krisenreaktionskräfte gedacht. Inzwischen räumt auch von der Leyens Bundeswehr-Planungsamt ein, dass bereits vor über 20 Jahren vom G36 verlangt wurde, „im Gefecht hoher Intensität, in allen Klimazonen und mit höchstmöglicher Präzision zu bestehen“.

Aber einige dieser Forderungen blieben auf dem Papier. Das Verteidigungsministerium machte es Heckler & Koch nicht allzu schwer. Als es im Jahr 1995 mit der Beschaffung des Gewehrs begann, gab es nicht einmal eine Ausschreibung. Die Vergabe erfolgte, so eine damalige Vorlage des Verteidigungsministeriums, „freihändig“.

Das kam Heckler & Koch entgegen, ebenso wie die Tatsache, dass die vom Beschaffungsamt der Bundeswehr im Jahr 1996 ausgegebenen Technischen Lieferbedingungen von dem Gewehr weniger verlangten, als ursprünglich angedacht. „Die ursprüngliche Präzisionsforderung der Taktisch-Technischen Forderung wurde von 0,2 Strich auf 0,3 Strich herabgesetzt“, würde später der Bundesrechnungshof vermerken. Und laut der Lieferbedingungen aus dem Jahr 1996 genügte es nun, dass jede Waffe ihre Trefferleistung mit „fünf hintereinander folgenden Einzelschüssen“ nachwies. Von Dauerfeuer war keine Rede mehr.

Auch der Grünen-Verteidigungsexperten Tobias Lindner hat diese Akten studiert. „Die Kriterien der Taktisch-Technischen Forderung und die Lieferbedingungen fallen zum Teil auseinander“, fiel ihm auf. Sein Kollege Michael Leutert von der Linksfraktion im Bundestag fragt sich bereits, ob der Hersteller nicht gewusst haben muss, dass das G36 jenseits der relativ laxen Lieferbedingungen der Bundeswehr Defizite aufweist: „Ich gehe fest davon aus, dass Heckler & Koch das Gewehr auf Herz und Nieren getestet hat“, sagt Leutert. „Die müssen gewusst haben, was seine Schwächen sind.“

Genug offene Fragen also, falls es denn zu einem Untersuchungsausschuss des Bundestages kommt. Der Kalte Krieg war 1993 nämlich vorbei, obgleich man sich bei der Bundeswehr weiter auch für den Atomkrieg wappnete. Nur galt dem damals schon lange keine strategische Priorität mehr. In einem Papier des Beschaffungsamtes der Bundeswehr vom August 1993 wurde die Frage ausdrücklich auf später vertagt, ob man nach der Auslieferung des Gewehrs an die Krisenreaktionskräfte „die Nichterfüllung von Einzelforderungen“ akzeptieren sollte. Zum Beispiel bei der „ABC-Härtung“: Dafür müsse man eventuell „bestimmte Materialien, insbesondere Kunststoffe, ggf. später durch andere und besser geeignete Werkstoffe“ ersetzen. Was dann bekanntlich nicht geschah.

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