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Last Call Die Königin des Flurfunks

Vor ein paar Tagen musste ich ins Parlament. Ich zog mir einen Anzug an und band mir sogar eine Krawatte um, obwohl ich beides normalerweise nur in Not- und Trauerfällen trage.

Ich nahm auch alles mit, von dem ich annahm, dass man das braucht, um ins Parlament von Westminster zu kommen – Personalausweis, Presseausweis, die Mail des Abgeordneten, den ich treffen würde. Es gibt dazu eine kleine Vorgeschichte: Entsprechende Termine in den Vereinigten Staaten führten mindestens zu einer Leibesvisitation und der Preisgabe der kompletten familiären Krankengeschichte bis tief ins vergangene Jahrhundert.

Ähnliches hatte ich auch in Westminster erwartet, alt und ehrwürdig und voller Tradition und merkwürdiger Riten. Aber: Vor dem Eingang stand ein junger, freundlicher Mann. Er fragte mich weder nach Namen noch nach Papieren noch nach irgendwas. Er zeigte nur ein Schild, auf dem allerlei verbotene Dinge abgebildet waren: Messer, Pistolen, Spraydosen, Handgranaten, Maschinengewehre, Mittelstreckenraketen, Flugzeugträger – das Übliche eben. Der junge Mann fragte: „Haben Sie davon etwas dabei?“, ich verneinte ordnungsgemäß, und er wollte nicht mal in meine Tasche gucken. Ich hätte vermutlich unerkannt, weil ungefragt, kleinere atomare Sprengsätze mitführen können.

Ich war überrascht.

Der Abgeordnete lud nach dem Gespräch noch auf einen Drink. Aus dem „House of Commons“ drang Gejohle und Geraune, „Debatte um Wales“, sagte der Abgeordnete, der am Pegel des Johlens und Raunens offenbar ganze Inhalte ableiten konnte. Er öffnete die Tür zur „Stranger’s Bar“ mit Blick über die Themse.

Am Tresen stand eine ältere Dame, Janet, die bis vor vier Jahren Labour-Abgeordnete war. Janet trank einen Pint Lager und war mir auf Anhieb sehr sympathisch, weil sie einen kleinen Exkurs über alkoholfreies Bier hielt, es aus tiefster Seele verabscheute und die ultimative Sinnfrage stellte: „Was ist der Sinn hinter alkoholfreiem Bier?“ Sie muss eine kraftvolle Rednerin gewesen sein. Wir wurden vorgestellt, und bei dieser Gelegenheit wurde klar, dass Janet Anderson tatsächlich eine besondere Abgeordnete war.

Vor ihrer Wahl ins Parlament gab sie das Versprechen ab, „dass Frauen unter Labour mehr Sex haben werden“. Das war eine reichlich gewagte Prognose, die leider nicht auf alle Blair-Wählerinnen zutraf und den damals jungen Premier physisch vermutlich auch überfordert hätte.

Unter Tony Blair diente Janet dann als „Vice-Chamberlain of the Household“, eine sehr alte und sehr schöne Tradition. Der oder die „Vice-Chamberlain“ hat nämlich unter anderem die Aufgabe, den König oder die Königin über den neuesten Gossip aus dem Haus zu informieren. Diesen wunderbaren Job, bezahlter Flurfunk, gibt es bereits seit 513 Jahren. Aber offensichtlich verrichtete niemand diesen Dienst in diesem halben Jahrtausend mit so viel Hingabe wie Mrs Anderson, geboren in Newcastle und ergo ausgestattet mit der Robustheit des englischen Nordens.

Janet reportierte – „with humble duty“ – ihrer Majestät fundierten Klatsch und Tratsch. „Die Presse berichtet über fünf schwangere Labour-Parlamentarierinnen. Wir kennen vier von ihnen, aber wer ist die fünfte? Und vor allem: Ist sie verheiratet?“

Sie berichtete auch von einem Stück Dach, das nächtens auf die Parlamentarierbänke herunterfiel, und bei etwas ungüstigerem zeitlichen Verlauf „wohl einige Nachwahlen“ nötig gemacht hätte. Sie deutete an, dass der Kollege Vince Cable von den Liberaldemokraten trotz seines Namens „im Köpfchen nicht richtig verdrahtet“ und der Tory John Bercow ein „anstrengender kleiner Mann“ sei, „der uns mit seinen Versuchen, besonders clever zu wirken zunehmend langweilt“. Sie schrieb auch von parteiübergreifender Konspiration, eine Abstimmung so weit in die Nacht hinauszuzögern, um das WM-Spiel Argentinien gegen England sehen zu können, das England selbstverständlich im Elfmeterschießen verlor.

Ein andern mal steckte sie der Queen in allerdings überaus verständnisvollen Worten und mit „humble duty“, dass eine Kollegin nach dem Genuss alkoholischer Getränke ihre Rede verschlafen hatte. Wohingegen sie für den Konservativen Michael Fabricant weniger Nachsicht aufbrachte, „der für alle Welt erkennbar eine Perücke trägt, das aber nicht zugeben will“.

Jeden Tag notierte sie als hochoffizielles Gossip Girl diese Pretiosen, und jeden Tag amüsierte sich die Queen königlich. Janet blieb persönliche Einflüsterin, bis sie zur Staatssekretärin befördert wurde.

Wir standen noch eine Weile an der Bar, und ich sagte, ich sei ein wenig neidisch, weil es in Deutschland einen offiziellen Gerüchte-Abgeordneten leider nicht gäbe. Sie wollten dann noch etwas mehr wissen über Riten und Umgangsformen in Deutschland und waren sehr erstaunt, dass man sich im Bundestag mit vollem Namen ansprechen darf und sich schon mal beleidigt. Ich erzählte wehmütig von Wehner und Strauß und Todenhöfer alias Hodentöter, und die beiden wirkten ganz fasziniert, „really?“. Ich erzählte auch die Geschichte von Joschka Fischers „Mit Verlaub Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“. Und sie schüttelten den Kopf. Wir lachten gemeinsam und blickten auf Big Ben. Sie sprachen von dem kleinen Gefängnisraum oben im Clock Tower, zuletzt vor 130 Jahren in Gebrauch wegen ungebührlichen Verhaltens im House. Irgendwann fragte Janet: „Was ist eigentlich aus dem Herrn geworden, der Arschloch sagte?“

Ich sagte: „Der wurde später unser Außenminister.“

Sie sagte „Oh“. Und bestellte noch ein Bier.

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