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Last Call Ein Pärchen vor Gericht. „Sex? Das hätte ich doch merken müssen“

Last Call: Ein Pärchen vor Gericht. „Sex? Das hätte ich doch merken müssen“

Ich liebe die kleinen Geschichten in Zeitungen. Geschichten, die man online überlesen würde in dem ganzen Wust, und die es vielleicht nur in die Zeitung schaffen, weil unten links auf der vermischten Seite noch ein Loch ist. Ich weiß von früher, wie das ist. Einer ruft dann durch den Großraum: „Hat einer eine Idee für 60 Zeilen. Kann irgendwas sein!“

Die „Kann-irgendwas-sein“-Geschichten sind in Wahrheit die besten. „Woman performed sex act at Radio 2 concert“, stand gerade in der Zeitung, versteckt links unten natürlich. Es war eine durch und durch britische Geschichte, im Groben ging es darum: Eine 48 Jahre alte Waliserin namens Lisanne Beck besuchte mit ihrem Freund Simon, 47 Jahre, ein Konzert im Hyde Park, veranstaltet vom Sender Radio 2. Crissie Hynde trat auf und Blondie und Billy Ocean und, die Älteren werden sich erinnern, auch ELO. Man könnte sagen: die Helden der 80-Jahre. In den 80-er Jahren waren Lisanne Beck und ihr Freund ziemlich junge Leute. Die Musik muss wohl etwas freigesetzt haben an Erinnerungen an dieses fröhlich-geschmacklose Jahrzehnt. Wie das manchmal so ist.

Ein "indecent act". Aber wo genau beginnt der Akt?

Die beiden tranken ein paar Gläser Cidre und etwas Wodka obendrauf, und es ging ihnen offenbar gut. Über das, was dann passierte, entscheidet nun ein Richter im berühmten Gericht „Old Bailey“, in dem normalerweise Massenmörder oder korrupte Politiker abgeurteilt werden. Dieser Fall liegt etwas anders, nämlich im Wortsinn und exakt unter der Gürtellinie. Die Anklage behauptet, Miss Beck habe vor den Augen von vielen Tausend Konzertbesuchern einen „indecent act“ an ihrem Freund verübt. Man habe eindeutig sehen können, wie Miss Beck sich über Mister Murphy lehnte und: „undid his shorts“. Danach soll sich ihr Kopf in zirka seiner Lendengegend aufgehalten und rhythmisch nach oben und unten bewegt haben, was sich im Englischen allerdings entschieden niedlicher anhört, „her head bobbing over her partner“. Auf der Bühne im Hyde Park sang unterdessen Paloma Faith.

Die ganze Nummer wurde von einem anderen Konzertbesucher gefilmt, der vor Gericht voller Abscheu und Empörung darüber sprach, was auf seinem Video zu sehen ist, nämlich recht viel „her head bobbing over her partner“. Und das alles vor allen Leuten und Kindern. Der Konzertbesucher konnte jedenfalls nicht anders und musste das einfach filmen, „ich war so angewidert“. Man kennt das von der „Bild“-Zeitung, wenn die fiese Fotos druckt und dann heuchlerisch titelt: „Solche Bilder wollen wir nie, nie, nie wieder sehen“. Im „Old Bailey“ liefen die Bilder nun unentwegt. Und die Jury, neun Frauen und drei Männer“, sahen viel „bobbing“, und Paloma Faith sang dazu.

Das ist die eine Wahrnehmung. Also „bobbing“.

Die andere ist die von Lisanne und ihrem Freund Simon. Miss Beck sagt nämlich, mit Sex habe das nun wirklich nichts zu tun gehabt, „wir müssen wohl in England sein“. Vielmehr habe sie ihren eingeschlafenen Freund wecken wollen und ihn geschüttelt, also kein „bobbing“, nur ein bisschen „shaking“. Außerdem sei in dem Filmmaterial kein Körperteil zu sehen, das man für gewöhnlich zum Sex benötige. Also bitte. Freund Simon sekundierte brav und mit dem schlüssigsten aller Argumente: Mit Sex habe das wirklich nichts zu tun gehabt. Denn falls es Sex gewesen wäre, also richtiger, hätte er das doch merken müssen. Hatte er aber nicht. Vermutlich wird man in Wales eben so aus dem Schlaf geholt; was sich liebt, das weckt sich.

So steht nun Aussage gegen Aussage, „bobbing“ gegen „shaking“. Und der Richter und die Geschworenen werden entscheiden müssen, was die Wahrheit ist und ob sie vielleicht irgendwo in der Mitte zwischen „bobbing“ und „shaking“ liegt.

Der Code des Gesagten. Und des wirklich Gemeinten

Das alles stand in der Zeitung, allerdings nicht explizit, sondern nur angedeutet. Briten sind Meister der Andeutung. Es gibt einen Code des Gesagten und des tatsächlich Gemeinten. „Quite good“ beispielsweise bedeutet nichts anderes als ziemlich enttäuschend oder „Ich habe nur ein paar kleine Anmerkungen“ heißt: „Kompletter Schrott. Neu machen.“ Man gewöhnt sich an diese Codes. Auch vor Gericht. Und gerade dann, wenn es um „indecent acts“ geht. Die britische Gerichtsbarkeit hat nämlich verhältnismäßig oft mit Sex-Delikten zu tun. Und es geht dabei nicht nur um Fälle, die im klassisch Kriminellen siedeln, Vergewaltigung, Pädophile und so. Es geht auch um die ganz profanen Konsequenzen beim Kopulieren. Gemma Wale, 23 Jahre, aus Birmingham wurde vergangene Woche zu einer zweiwöchigen Gefängnisstrafe verknackt, weil sie Sex hatte, dabei offenbar Spaß und darüber einen Nachbarn aufweckte, „weil sie zehn Minuten lang schrie und kreischte“. Die Richterin hielt ihr Urteil ziemlich spröde fest: „Mir ist klar geworden, dass in den frühen Morgenstunden des 25. Januar gegen fünf Uhr morgens die Angeklagte des Schreiens und Brüllens schuldig war während sie Sex hatte und das der Lärm-Level einem Anwohner Ärgernis bereitete.“ Die Richterin berief sich auf Paragraf 3 des „Anti Social Behaviour Order“, kurz ASBO. In Deutschland heißt das wohl „Ruhestörung“.

Frau Gemma, muss man wissen, hatte zuvor schon ein notorisch lautes Triebleben; immer wieder beschwerten sich Nachbarn über die junge Dame und ihr Gekreische bei Männerbesuch, und nun wurde es der Richterin zu bunt, Verstoß gegen Paragraf 3. Immerhin: ein Urteil.

In London läuft das Verfahren gegen die beiden Waliser noch ein Weilchen im „Old Bailey“. Vielleicht lässt der Richter ja Gnade walten und hat ein Einsehen. Denn vielleicht war alles nur ein beruflicher Reflex. Lisanne Beck ist nämlich „Event-Managerin“.

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