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Last Call Football’s going home. Keine Angst mehr vorm Elfmeter!

Die Frau hat zwar einen deutschen Pass, aber ein englisches Herz. Sie wuchs in London auf,
 trinkt englischen Tee, spricht Englisch wie Engländer und geht sowieso überall als Engländerin durch. Das ist beneidenswert. Als Kind rief sie einmal sogar bei der BBC an und beschwerte sich über deren kritische Königshaus-Berichterstattung bei irgendeinem Thron-Jubiläum. Sie beschimpfte den Moderator: „Ihr wisst gar nicht, wie gut Ihr es habt. Ich bin Deutsche, und wir haben nur einen langweiligen Bundespräsidenten.“ Bei Fußball-Welt- und Europameisterschaften hält die Frau selbstverständlich zu England. Was den Engländern bislang noch nichts genutzt hat und auch diesmal nichts genutzt hat.

Neulich waren wir im Wembley Stadion. Es war das letzte Spiel der Engländer vor ihrer Abreise nach Brasilien. Es ging gegen Peru, das mit einer etwas besseren Jugendmannschaft antrat. Die Stimmung war entschieden besser als das Spiel. Man konnte an diesem Abend schon ahnen, was in Brasilien passieren würde, die Frau sprach: „Hm, ich habe kein gutes Gefühl.“ Die Ausrichter hatten immerhin Fähnchen auf die Plätze gelegt, die die Zuschauer in Ermangelung anderer Attraktionen auf dem Feld zu Pappfliegern umfunktionierten und Richtung Spielfeld segeln ließen. Einer traf in der zweiten Halbzeit einen peruanischen Spieler, und der Jubel darüber war größer als bei den englischen Toren.

Das war recht lustig.

Auch bei unserem vorletzten gemeinsamen Besuch in Wembley spielten Flieger eine gewisse Rolle. Vor dem Europameisterschafts-Halbfinale 1996, also vor gefühlten Ewigkeiten, imitierten tausende von englischen Fans die Dambusters, jene Bomber der Royal Air Force, die im Zweiten Weltkrieg deutsche Talsperren zerstörten. Die Fans hatten großen Spaß daran.

Das war so semi-lustig.

Als Strafe gewann Deutschland das Spiel mit 6:5 im Elfmeterschießen. Und verstärkte damit jenen englischen Komplex, der sich im Laufe der Jahre zu einer englischen Krankheit ausgewachsen hat – Elfmeter. Penalty.

Die bloße Erwähnung des Wörtchens Penalty generiert hierzulande Panikattacken und Schweißausbrüche. Man kann sagen: Das ganze Land hat Angst vorm Elfmeter. Selbst Menschen, die sich gar nicht für Fußball interessieren, wissen sehr wohl über die Penalty-Phobie. England hat von sieben Elfmeterschießen bei Turnieren sechs verloren (1990, 1996, 1998, 2004, 2006 und zuletzt 2012). Und als sie einmal ein Elfmeterschießen gewannen, 1996 gegen Spanien, verloren sie prompt in der nächsten Runde durch Elfmeterschießen eben gegen Deutschland. Das chronische Versagen nistet tief in der nationalen Seele; der frühere Nationaltrainer Terry Venables verriet jüngst erst: „Ich habe immer noch Albträume.“ Und in seinen Albträumen sieht er jubelnde Deutsche 1996 in Wembley. Vielleicht sieht er sogar mich damals in Wembley.

In den Wochen vor der WM liefen nun pausenlos Sendungen über die größten Fußball-Pleiten der Geschichte im Fernsehen, und ebenso pausenlos sah man englische Nationalspieler über das Tor oder gegen den Torwart schießen und danach zu Boden sinken: Stuart Pierce (gegen Deutschland), Gareth Southgate (gegen Deutschland), Paul Ince und David Batty (gegen Argentinien), David Beckham (gegen Portugal) und so weiter und so fort. Es war wie in dem Hollywood-Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“.

Natürlich machen Engländer auch Witze über das Elfmeterschießen. Einer geht so: „Es gibt nur drei Gewissheiten im Leben – Tod, Steuern und England verliert im Elfmeterschießen.“ Aber in Wahrheit bleibt ihnen der Witz eher im Hals stecken, denn Fußball ist auch hierzulande eine viel zu ernste Angelegenheit. Der Kollege Ben Lyttleton hat jetzt ein Buch herausgebracht, in dem es um die Psychologie des Elfmeters geht. Er hat dafür wunderbare Fakten zusammengetragen. Zum Beispiel ist es statistisch gesehen am sinnvollsten, aus 30 Grad schräg versetzt anzulaufen. Es sei denn, der Schütze ist Engländer. Oder: Der Torwart möge sich zwischen 1,7 und 4,5 Sekunden Zeit nehmen und erst dann dem Schützen in die Augen blicken, der sich wiederum auch Zeit nehmen sollte und nicht, wie die Engländer, in wahnwitzigen 0,28 Sekunden den Ball mehr hetzen als treten. Der norwegische Psychologe Geir Jordet fand außerdem heraus, dass Mannschaften, die zweimal hintereinander ein Shoot-Out verloren mit 57-prozentiger Wahrscheinlichkeit auch das dritte in Folge vergeigen. Welche Folgen das für die englische Mannschaft haben könnte, konnte der Norweger nicht voraussagen, weil England gleich fünfmal in Serie scheiterte und vergleichbares Missgeschick global unauffindbar war.

Der Kollege räumte in seinem Buch auch mit ein paar Mythen auf. Eine Mär zum Beispiel, dass eine Checkliste über die Eigenarten von Schützen die Erfolgsaussichten des Torwarts erheblich erhöht. Der italienische Keeper Giggi Buffon schaute vor dem Viertelfinale 2012 den ganzen Tag über Pornofilme, eine etwas andere Form des Finalisierens, und Italien gewann anderntags. Im Elfmeterschießen. Gegen England. Natürlich. Ob die Briten Buffons eigenwillige Spielvorbereitung in Brasilien übernommen haben, ist noch nicht bekannt. Bekannt ist aber, dass erstmals ein Psychologe das Flugzeug Richtung Rio bestieg, dessen Aufgabe auch darin bestand, Spieler und damit auch die Nation von der Angst vor Elfmetern zu kurieren. Im Training in Brasilien schossen die Spieler dann Elfmeter auf ein Tor ohne Torwart. So groß war die Angst vorm Elfmeter.

Zum zweiten Spiel gegen Uruguay waren wir in einem Pub, er hieß North Star und war voller englischer Fans, die genau wie die Frau immer noch hofften. Die Pubs dürfen ausnahmsweise bis ein Uhr nachts geöffnet bleiben. Das war die gute Nachricht für die vielen englischen Fußball- und Bierfreunde, was ein und dasselbe ist. Die schlechte Nachricht war, dass die langen Öffnungszeiten nur für die zwei Wochen der Vorrunde gelten. David Camerons Regierung hatte vorab eine Art Risikoanalyse in Auftrag gegeben. Bei der kam heraus, dass das englische Team mit einiger Wahrscheinlichkeit schon nach der Gruppenphase ausscheiden würde. Es gab sehr viel Kritik an der Regierung für diesen pessimistischen Ansatz, der Premierminister wurde beschimpft als Defätist. Am Ende hatte er Recht. England ist raus, Football's going home. Das Ganze hat nur ein Gutes: auf keinen Fall Elfmeterschießen.

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