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Last Call Missbrauch, Lügen und die Pest der politischen Korrektheit

Manchmal sagen Briten Dinge, die außer ihnen niemand versteht, es ist eine Art geheimer Code der Sprache. Neulich ging das sogar als Scherz durchs Netz: „30 Things British People say and what they actually mean“, 30 Sachen, die Briten sagen und was sie wirklich bedeuten. Die Floskel „not too bad actually“ auf die ebenso floskelhafte Frage „How are you?“ bedeutet demnach nichts anderes als „Nie im Leben ging es mir besser“. Wohingegen „I’m sure it will be fine“ so viel heißt wie „Es wird alles ganz furchtbar und schrecklich“.

Ich frage mich, warum man das dann nicht auch sagen kann. Aber das ist womöglich sehr deutsch.

Wir haben früher in den USA gelebt. Wenn man dort etwas sehr direkt, aber nicht unhöflich aussprach, hieß das „European bluntness“. Das ist ein feststehender Begriff, „Europäische Unverblümtheit“. Sagte ich zum Beispiel „I don’t like it“, kam das nicht so gut an. Viele chronisch zuvorkommende Amerikaner konnten damit nicht umgehen. Man kann „Gefällt mir nicht“ nämlich auch verlogener, also wolkiger formulieren, irgendwie in die Richtung von „da ist noch etwas Luft nach oben“. Es kommt nicht von ungefähr, dass es bei Facebook nur einen „Like“-Button gibt. Facebook ist durch und durch amerikanisch. Das Höchste der Gefühle an Kritik bei Facebook ist „Gefällt mir nicht mehr“.

Das gefällt mir nicht.

Political correctness ist die Pest der Moderne

Amerika war und ist ohnehin das Land der unbegrenzten politischen Korrektheit.

Für alles mögliche wurden und werden weitgehend dämliche Beschreibungen gefunden. Dicke, also Übergewichtige, heißen dort „horizontally challengend“, horizontal herausfordert. Und Zwerge, oder wie man in Deutschland inzwischen sagt, Kleinwüchsige „vertically challenged.“

Politische Korrektheit verhunzt die Sprache bis zur Unkenntlichkeit. Sie verschleiert die Wahrheit. Sie ist eine Pest der Moderne.

In Rotherham, Yorkshire, wurden in einem Zeitraum von 16 Jahren 1400 Kinder missbraucht. Der Fall ging in dieser Woche weltweit durch die Medien. Die Mädchen waren teilweise erst elf oder zwölf. Und ihre Peiniger „Asian males“, männliche Asiaten. So stand es in Akten, „Asian males“. Jeder in Rotherham weiß, wer damit gemeint ist: Männer aus Pakistan. Die Polizei und auch die Kinderschutzorganisationen von Rotherham wussten von Verschleppungen, Vergewaltigungen und permanentem Missbrauch spätestens seit 2002. Es gab immer und immer wieder Berichte, Zeugenaussagen und Anzeigen. Sie unternahmen: nichts.

Der frühere Labour-Abgeordnete für Rotherham, Denis McShane, erklärte, er habe nichts unternommen, weil er die „multikulturelle Gemeinde von Rotherham nicht erschüttern wollte“. Er sei vielleicht ein wenig zu links gewesen, zu liberal. Er kannte die Vorfälle. Er sagte nichts, weil ihm das womöglich als rassistisch ausgelegt worden wäre. Sagte er zumindest. Ähnlich äußerten sich auch andere Vertreter der Stadt. Die konservative Presse machte daraus: Politische Korrektheit verdeckte Skandal.

Es gibt in diesem Fall nur eines, was noch schlimmer ist als politische Korrektheit: nämlich politische Korrektheit als Grund oder – schlimmer noch – als Entschuldigung vorzugaukeln.

Das passiert gerade in Yorkshire.

Die Mutter eines missbrauchten zwölfjährigen Mädchen antwortete auf die Frage eines Fernsehreporters, wie es sein könne, dass die Behörden nichts taten, mit erschütternder Offenheit: „Weil sie die Mädchen für kleine, dreckige Schlampen und Abschaum hielten.“

Es ist ein Satz von brutaler Klarheit und das exakte Gegenteil von politisch korrekt. Es ist vermutlich das Ehrlichste und Wahrhaftigste, was in dieser Woche zum Missbrauchsskandal in Rotherham gesagt wurde.

Der Missbrauch war offensichtlich. Es geschah am hellichten Tag

Politische Korrektheit?

Väter folgten ihren Töchtern in schäbige Häuser, in denen die Minderjährigen vergewaltigt wurden. Sie riefen die Polizei und wurden selbst angezeigt wegen Hausfriedensbruch.

Eine Mutter fand die Namen von 125 Peinigern im Handy ihrer Tochter. Einhundertfünfundzwanzig. Sie ging damit zur Polizei. Aber die Beamten zuckten mit den Schultern und bedeuteten ihr, sie könnten nicht ermitteln, weil sie damit gegen die Persönlichkeitsrechte des Mädchens verstoßen würden.

Das hat nichts mit politischer Korrektheit zu tun.

Der Missbrauch war zu offensichtlich. Es geschah am hellichten Tag, es geschah in Autos, an Bushaltestellen und hinter Tankstellen. Die Wahrheit ist, dass Rotherham eine arme englische Stadt ist mit einer hohen working-class-Quote und einer noch höheren Quote an Vorurteilen. Es passierte unter den Augen der Polizei, die nichts unternahm, weil sie nichts unternehmen wollte – kleine Schlampen aus der Unterschicht, die sich mit älteren Kerlen abgaben. Die „Times“-Kolumnistin Janice Turner schrieb: „Wenn ein Taxi-Service in Rotherham, betrieben von, sagen wir: ehemaligen Bergleuten, die Mädchen abgegriffen, vergewaltigt und verfolgt hätte: Wären sie schneller fest genommen worden?“ Nein. Es geht hier nicht um die Herkunft der Täter, es geht um die der Opfer. „Sie sahen nicht die Kinder. Denn in ihren Augen sind einige Opfer weniger unschuldig als andere.“

Das ist wohl die traurige Wahrheit. Und keine vorgeschützte politische Korrektheit und Skrupel wegen Rassismus.

Die pakistanischen Bewohner von Rotherham sind entsetzt über die Verbrechen. Sie sind wie alle entsetzt über die Täter, die aus ihrer Mitte kamen. Und sie sind auch entsetzt darüber, dass es heißt, „institutionalisierte politische Korrektheit“ sei dafür verantwortlich, dass so etwas jahrelang geschehen konnte. Das ist zu einfach. Und falsch.

Wäre das wahr, bedeutete es im Umkehrschluss, dass man Pakistanern, die auch in Rotherham hinter vorgehaltener Hand „Pakis“ gerufen werden, die Wahrheit nicht zumuten kann. Und das wäre obendrein: hochgradig rassistisch.

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