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Last Call Ja oder Nein – Schottland stimmt ab

Last Call: Ja oder Nein – Schottland stimmt ab

Neulich saß ich in einem Zug von Glasgow nach Manchester. Ein Schaffner machte eine Durchsage, sie dauerte ungefähr von Glasgow bis Kilmarnock, 20 Minuten. Er redete und redete und lachte zwischendurch sehr laut. Ich verstand leider kein Wort, der Akzent sehr schottisch und schwer. Aber es muss eine sehr, sehr komische Durchsage gewesen sein, und also fragte ich meinen englischen Sitznachbarn nach dem Inhalt der lustigen Durchsage. Mein englischer Sitznachbar war ein Fernsehkollege von der BBC. Er sagte: „Ich habe kein Wort verstanden. Aber ich vermute, es ging um eine Verspätung.“ Er sagte noch, er liebe die Schotten. Fröhliches, trinkfreudiges Völkchen, immer lustig. Selbst bei Verspätungen.

Der Zug war dann aber pünktlich.

Vielleicht merken beide Seiten gerade, was sie aneinander haben. Und vielleicht ist das ein bisschen spät, womöglich zu spät. Warum erst jetzt? In London versammelten sich 5000 Menschen am Trafalgar Square und flehten Richtung Norden, sie sollten bitte bleiben. Die Veranstaltung hieß „Let’s stay together“. Der Historiker Dan Snow hatte sie organisiert, und der Komiker Al Murray hielt eine kleine Rede und rief den Leuten zu, dass das mit der Scheidung nach 307 Jahren schon deshalb keine gute Idee sei, weil dann der wunderbare Song „I would walk 500 miles“ der schottischen Band „The Proclaimers“ umgedichtet werden müsste in „I would walk 800 kilometres“. Schottland will ja in der EU bleiben. Das ist ein guter Punkt. Sein Kollege Eddie Izzard zitierte noch amerikanische Astronauten: „Wir sehen von hier oben keine Grenzen und Grenzposten.“ Das Schöne an Großbritannien sei, „dass wir alle Grenzen niedergerissen haben“. Es gab großen Applaus am Trafalgar Square. Der Sockel von Nelson’s Column dort ist aus Sandstein und kommt aus Craigleath, Schottland.

Umfragen zeigen, dass Engländer, Waliser und Nordiren die Schotten gerne behalten möchten. Zwei Drittel von ihnen würden unter der Scheidung leiden.

Am Dienstag abend ging ich in Edinburgh in einen Pub, um ein Fußballspiel zu schauen, Borussia Dortmund spielte gegen Arsenal London. Ich setzte mich an einen Tisch zu einem Engländer. Er hieß Chris, war Mitte 50, ein Arsenal-Fan aus Bristol. Chris arbeitet für eine schottische Wohlfahrtsorganisation, er verbringt die Hälfte des Jahres im Norden und hilft schottischen Witwen. Wir sprachen erst über Fußball, kamen aber rasch und unvermeidlich auf das Referendum. Chris sagte: „Ich habe Angst, einen Teil meiner Heimat zu verlieren. Ich bin Engländer und Brite. Aber das hier ist auch meine Heimat. Ich liebe Schottland. Schottland ist auch ein Teil von mir.“

Die Schönheit der Debatte schwindet. Es ist Wahlkampf

Dann schoss Dortmund zwei Tore, und viele Schotten im Pub jubelten. Es war kein guter Abend für den Engländer Chris aus Bristol, im Herzen aber auch Schotte. Ich hatte kein Mitleid mit Arsenal, aber Mitleid mit Chris.

Der Ton wird rauer, unangenehmer, irgendwie unbritischer. Die Modemacherin Vivienne Westwood, Engländerin, sagt: „Ich hasse England. Und ich liebe Schottland.“ Es ist nun Wahlkampf. Richtiger Wahlkampf. Und richtiger Wahlkampf heißt, dass es ungemütlich und in Teilen hässlich wird. Die friedliche Schönheit der zivilisierten Diskussion, die dieses Referendum monatelang geprägt hat, schwindet. Auf beiden Seiten.

Ed Miliband, Labour-Chef, muss eine Veranstaltung in einem Shopping-Center abbrechen. Yes-Campaigner rufen ihn Lügner. Die No-Leute sind darüber vermeintlich empört. Sie sagen, Yes zeige offenbar nun sein wahres Gesicht.

Am Tag davor ist die Stimmung gereizt in diesem kleinen Land, auf das am Donnerstag die Welt blickt. Die Großen der Welt schicken Grußadressen, Clinton und Obama. Das Königreich möge vereint bleiben. Kim Jong Un, Nordkorea, wünscht sich die Abspaltung. Er ist Experte und weiß aus erster Hand, wie sich das anfühlt, ziemlich abgespalten zu sein.

Die Stimmung ist zwischen Schloss und Luftschloss

Am Tag davor werfen beide Seiten alles in die Offensive. Yes verschickt noch mal 2,6 Millionen Flugblätter, No geht langsam die Puste aus: 1,5 Millionen Flugblätter. Es ist die Schlacht um die Unentschiedenen. Das sind je nach Umfrage zwischen fünf und zehn Prozent der Schotten. Die Yes-Leute rekrutieren die Jüngsten, die 16- bis 18-jährigen. Sie sollen die eigenen Omas und Opas noch umstimmen. Denn die Generation der Omas und Opas ist mehrheitlich für den Verbleib in der Union mit Großbritannien. Aber der Plan mit der jugendlichen Abteilung Attacke geht offenbar ziemlich nach hinten los. Viele Omas und Opas verbitten sich die Einmischung der Enkel.

Am Tag davor melden die Zeitungen, dass die Pläne von Schottlands First Minister Alex Salmond zur Gesundheitsversorgung in einem unabhängigen Schottland ein Luftschloss sind. Und ein Blatt meldet, dass Salmond im Fall der Unabhängigkeit ein richtiges Schloss beziehen will, Governor’s House, ein 200 Jahre altes Prachtgebäude auf dem Calton Hill. Es war mal ein Gefängnis und soll sein Äquivalent zur Downing Street werden. Luftschloss und Schloss, irgendwo dazwischen pendelt die Stimmung der Nation.

Am Tag davor hat sich eine dichte Wolkendecke über Schottland gelegt, es nieselt. Das ist nicht ungewöhnlich, schottischer Spätsommer. Das Wetter, merkwürdig, war vermutlich das einzige Thema, das in der Debatte um Schottlands Unabhängigkeit keine Rolle spielte. Obschon: Ein paar Meteorologen errechneten, dass im Fall von Yes der Rest der Insel davon profitieren werde. 20 Zentimeter weniger Regen im Jahresdurchschnitt, weil das feuchte Schottland dann aus der Wertung fällt. Das ist die beste Nachricht des Tages für den Süden.

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