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Last Call Von seltener Sehnsucht nach Deutschland

Das Leben im Ausland ist oft eines zwischen den Stühlen. Man sieht das eigene Land aus der Distanz wie durch ein Brennglas. Vieles wirkt klarer und schärfer von außen. Derzeit tut der Blick richtig gut.

Neulich war ich auf Heimatbesuch in Deutschland. Wir fahren da relativ selten hin, nur zu besonderen Anlässen. Runde Geburtstage von Freunden und Verwandtschaft, Arztbesuche oder Heimspiele von Borussia Dortmund. Solche Sachen. Wichtige Sachen.

Es gab Zeiten, da war ich ziemlich lang am Stück nicht in Deutschland, es zog mich auch nicht unbedingt. Freunde und Familie kamen uns in New York besuchen. Das war für alle praktischer. Einmal holte mich der stern zurück. Sie sagten: „Guck dir mal das Land aus der Sicht eines Außenstehenden an und schreib darüber.“ Das war 2006, Fußball-WM, ich war drei Jahre lang nicht in Europa gewesen, ein Außenstehender tatsächlich, und hatte außer Grünkohl nichts vermisst. Damals war ich wie die ganze Welt verzaubert vom Sommermärchen und trotzdem froh, wieder heim zu fliegen nach Amerika. Trotz George W. Bush.

Zwei Jahre später zogen wir zurück nach Deutschland, es war Winter und dunkel, das Sommermärchen Geschichte. In Hamburg waren gerade Wahlen, einer der Kandidaten hieß unvergessen Hinnerk Fock, und ich dachte: Fuck, willkommen in der Provinz. Wir hatten kollektives Heimweh, übel sogar; die Töchter schimpften auf Schule und Deutschland, und dieser Zustand dauerte etwa zwei Jahre. Danach ging es langsam besser.

Das Leben im Ausland ist oft eines zwischen den Stühlen. Man sieht das eigene Land von außen wie durch ein Brennglas. Vieles wirkt klarer und schärfer von außen. Und umgekehrt: Vieles, was aus der Distanz die neue Wahlheimat verklärt, hält aus der Nähe nicht das, was es versprach. Das führt zu einer ständigen Verteidigungshaltung: In England verteidigen wir immerzu Deutschland. In Deutschland verteidigen wir immerzu England. Das ist manchmal recht anstrengend, aber durchweg spannend. Ich habe angefangen, die Queen in Deutschland zu verteidigen. Und Angela Merkel in England. Manchmal staune ich über mich selbst…

Ich verteidige die Queen in Deutschland. Und Angela Merkel hier

In diesem Jahr war mir Deutschland noch näher als während des Sommermärchens. Mit jeder negativen Zeile in der englischen Boulevardpresse wirkte mein Geburtsland Land wärmer und freundlicher auf mich. Die Schlagzeilen gehen ungefähr so: „Merkel ist fahrlässig!“, „Die Migrations-Krise könnte Britannien aus Europa treiben!“, „Die Grenzen kollabieren!“. Und als Schäuble vor kurzem vor einer Flüchtlingslawine warnte und seine Chefin mit einer unvorsichtigen Skifahrerin verglich, freute sich vor allem die „Daily Mail“. In England.

Es kamen erst 400 000, dann 600 000, dann 800 000 Menschen. Die Tore blieben auf.

Die Briten staunten und raunten „Kann das gut gehen?“. Bei politischen Veranstaltungen tuschelten sie, die Deutschen seien verrückt und Merkel „gone mad“ oder „crazy“ oder „nuts“. Offiziell würden sie das nie sagen, hinter vorgehaltener Hand schon. Ich habe Merkel nie gewählt, aber in diesen Momenten konvertierte ich zu ihrem Advokaten und Reclam-Botschafter: „Irgenwer muss es ja tun, und Ihr tut es nicht“. Solche Ausbrüche firmieren in Großbritannien unter dem Begriff European oder auch German bluntness, Unverblümtheit. In den vergangenen Monaten war ich für meine Verhältnisse oft deutsch und blunt.

"Ausgerechnet Deutschland als gelobtes Land!"

Vor kurzem traf ich den britischen Historiker Timothy Garton Ash in Oxford. Er hat lange in Deutschland gelebt, im Osten und im Westen. Er war für seine Verhältnis fast euphorisch: „Deutschland, ausgerechnet Deutschland als gelobtes Land von Flüchtlingen!“ Dass er das noch erleben dürfe. Ash schaute aus der Distanz auf dieses Deutschland. Und sagte, Pegida und AfD seien zwar beunruhigend. Aber die Deutschen würden das schon schaffen. Er sagte das nicht, weil er als Brite per se freundlich ist. Ash kann auch anders, fast blunt. Lebte ja lange genug in Berlin, der Hauptstadt der Unverblümtheit. Er glaubt das wirklich. Es tat gut.

Dann flog ich nach Deutschland, kein Wintermärchen.

Hamburg zur Weihnachtszeit. Am Hauptbahnhof Zelte, in denen Klamotten und Suppe ausgeteilt werden. Familien mit kleinen Kindern und großen Koffern. Man kann in ihren Gesichtern lesen, was sie hinter sich haben. Im Logistik-Zentrum an den Messehallen stapeln Freiwillige immer noch Hilfsgüter. Sie sortieren Windeln und Wäsche und Lebensmittel, es hört nicht auf. Als ich ein paar Tage später zurückflog, stand in der Zeitung, der einmillionste Flüchtling sei in Deutschland angekommen. In Dresden marschierte Pegida. Aber ich flog mit einem guten Gefühl zurück. Das Gefühl war noch besser als nach dem Sommermärchen.

London zur Weihnachtszeit. Keine Zelte in der Innenstadt, keine Flüchtlinge überhaupt. Die kleine Stadt Passau, hatte Timothy Garton Ash gesagt, habe mehr Syrer aufgenommen als Großbritannien in fünf Jahren plant. Ihm war das peinlich, er entschuldigte sich. Die „Daily Mail“, schrieb am Tag meiner Rückkehr empört: „10 000 Migranten beantragten in nur drei Monaten Asyl in Großbritannien“. 10 000 in drei Monaten. Hm. Die „Mail“ benutzt Migranten wie ein Schimpfwort.

Der Flug von Hamburg nach London dauert nur eine Stunde. Ich sollte vielleicht doch häufiger mal zurück.

Wenn es mir hier zu bunt und blunt wird.

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