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Hans-Martin Tillack It’s the event, stupid!

Paradox: Zeitungen verlieren an Auflage und Einnahmen, aber die angeblich „neue Macht der Medien“ treibt die Kritiker um.

Vergangene Woche war der ehemalige SPD-Politiker Michael Naumann dran, bescheinigte den Politikjournalisten einerseits Relevanzverlust“ und warf ihnen andererseits vor, ein falsches Bild des SPD-Spitzenmanns Peer Steinbrück mitzuprägen.

Morgen erscheint ein Buch, das der gewöhnlich besonnene Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen zusammen mit dem Journalisten Wolfgang Krischke herausgegeben hat. Unter dem Titel „Die gehetzte Politik“ thematisiert es – in der Tat – „die neue Macht der Medien und Märkte“.

Dass die Macht der Märkte über die Politik groß ist und das nicht erst seit der Finanzkrise – wer wollte widersprechen. Aber die Medien?

Pörksen, der zuletzt mit einem klugen Buch über den Einfluss des Internets auf die Thematisierung von Skandalen auf sich aufmerksam machte, stimmt in der Einleitung seines neuen Werks dennoch ein ganz ähnliches Tremolo an wie Naumann: Eine „kollektive Empörungsbereitschaft, befeuert von einer entsprechenden Medienberichterstattung“ arbeite sich „an Skandalen und Affären ab, in deren Zentrum nicht Strukturen und Prozesse, sondern Individuen und ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Verfehlungen“ stünden. Tiefpunkte habe „die allgemeine Moralisierung und Trivialisierung politischer Prozesse“ in der Affärendebatte um Christian Wulff erreicht.

Um solche und ähnliche Thesen zu illustrieren führten 23 Tübinger Studenten Interviews mit 27 Prominenten, von Winfried Kretschmann bis Rainer Langhans. Diese Gespräche sind häufig interessant. Aber: Schlagende Belege für die neue Macht der Medien liefern sie nicht.

Das liegt nicht nur an den engen Grenzen, die ein solches Interviewbuch setzt. Da gibt es immerhin Verräterisches von Thilo Sarrazin (SPD). Er hält seine Sätze wie die über arabische und türkische Einwanderer, die „ständig neue Kopftuchmädchen“ produzieren, für „Meisterwerke, weil sie eine so starke kommunikative Wirkung entfaltet haben“. Da gibt es Abstruses. Wolfgang Schäuble (CDU) darf unwidersprochen behaupten: „An der Spendenaffäre hatte ich persönlich keinen Anteil.“ Und es findet sich Skurriles vom Finanzunternehmer und Freundschaftsexperten Carsten Maschmeyer: „Die wärmende Geborgenheit zwischenmenschlicher Nähe kann Facebook nicht ersetzen.“

Bleibt die Frage nach der Rolle der Medien im Zeitalter des Internets. Haben sie wirklich mehr Einfluss? Dank des Netzes verlieren klassische Zeitungen ja nicht nur Leser und Anzeigenkunden. Sie stehen auch sehr viel stärker unter Beobachtung. Leser oder Zuschauer erreichen über Blogs und Twitter die öffentliche Arena. Journalisten müssen sich darum mehr erklären (nebenbei ein Grund, weshalb ich seit nunmehr fast acht Jahren diesen Blog betreibe).

Da liegt folglich die Schlussfolgerung nahe, die der ehemalige Hamburger Bürgermeister Ole von Beust (CDU) den Buchinterviewern mitteilt: „Heute, bei der Vielfalt der Medien, ist es fast egal, was eine einzelne Zeitung, ein einzelner Sender oder das Internet bringt.“

Bleibt heute der Politik wegen häufiger Leaks (gibt es die wirklich öfter als früher?) kein Raum mehr zum Atmen – oder stimmt, was die Merkel-Kritikerin Gertrud Höhler sagt: Dass die Kanzlerin „komplette Geheimhaltung“ praktiziere?

Hat vielleicht trotzdem Schäuble recht, wenn er den Journalisten attestiert, im Konkurrenzkampf mit dem Internet ungehemmter zu „Dramatisierungen und Skandalisierungen“ zu greifen „in einem immer härteren Kampf um Aufmerksamkeit“?

Einer der wenigen Interviewten des Bandes, der der Eingangsthese zustimmt, ist ARD-Studioleiter Ulrich Deppendorf. Ja, heute sei die Politik „zum Teil auch eine (von den Medien, hmt) getriebene Klasse“.

Nun, das war sie „zum Teil“ aber auch schon früher. Nämlich immer dann, wenn Medien Fakten enthüllten und Skandale thematisierten – also seit es eine unabhängige Massenpresse gibt.

Der Interviewband von Pörksen und Krischke blendet wie viele kulturkritische Betrachtungen über den angeblichen Qualitätsverfall „der Medien“ eine Tatsache aus, die wegen ihrer nackten Banalität allzu leicht übersehen wird: Journalisten berichten über Ereignisse, Journalismus ist ereignisgetrieben – „event-driven“ sagen die Angelsachsen.

Sei es, dass Journalisten ihre Chronistenaufgabe erfüllen und über Ereignisse berichten, die dann die Politik zum Handeln und zur Stellungnahme zwingen – vom Mauerfall bis Fukushima. Selbst Blogger Stefan Niggemeier widerspricht bei Pörksen und Krischke übrigens der Theorie, die Berichterstattung im Internet habe den deutschen Atomausstieg herbeigeführt. „Ein rund um die Uhr sendendes Nachrichtenfernsehen“ hätte da „ähnlich großen Druck“ erzeugt.

Aber Journalisten haben ja mehr als eine Chronistenpflicht. Sie enthüllen bisher unbekannte Fakten und schaffen damit ein Ereignis. Das gab es in Deutschland spätestens seit der Harden-Eulenburg-Affäre im Jahr 1906 (bei der der enthüllende Journalist in einer heute glücklicherweise verpönten Weise private Neigungen skandalisierte). Das gab es im Flick-Skandal wie in den Affären um Christian Wulff. So, what’s new?

Weder vor hundert Jahren noch heute können Journalisten nach Belieben Themen setzen. Die wachsende Macht der Lobbyisten in Berlin, die Thomas Leif in dem Pörksen-Buch thematisiert, sie war lange kaum ein Thema in Berlin. Obwohl viele Journalisten versuchten, sie zum Thema zu machen. Ausgerechnet der Skandal um Christian Wulff und seinen Sprecher Olaf Glaeseker hat mitgeholfen, das zu ändern. Auf einmal überdachten große Konzerne zumindest zeitweise ihr Politsponsoring.

Warum verfangen manche Themen, andere aber nicht? Die Debatte um die Sexismus-Vorwürfe gegen FDP-Mann Rainer Brüderle hätten einige Korrespondenten in Berlin fast schon wieder abmoderiert. Doch dann griffen tausende Frauen und Männer mit ihrem Aufschrei auf Twitter ein.

Der journalistisch-politische Komplex unterschätzt gelegentlich Themen, da ist das Internet heute ein Korrektiv. Aber heute wie gestern brauchen große Debatten einen starken Anstoß, also ein Ereignis.

Das Demokratiedefizit der EU – ist erst ein richtiges Thema seit der Euro-Krise. Die Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke – sie war auch ein Sieg der Lobby gegen die öffentliche Meinung. Nach Fukushima war die Kraft der Bilder größer. Die Mehrheitsmeinung der Bürger ließ sich nicht länger ignorieren.

Wer den Zusammenhang von Ereignis und Berichterstattung nicht begreift, dem werden die Medien ein Rätsel bleiben. Diejenigen, die Mediendebatten gerne als Kampagne oder Presseverschwörung denunzieren, haben nicht zufällig immer wieder viel Energie auf die Behauptung verwendet, es habe überhaupt kein neues Ereignis gegeben – so etwa der konservative Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger im Fall Wulff: Da seien „die Sachverhalte“ wie in vielen Fällen „schon bekannt“ gewesen „lange bevor sie zum Skandal“ wurden.

Dass ein wohlbestallter deutscher Universitätsprofessor solch empiriefreies Gezwitscher verbreitet, sagt etwas über das Niveau von Teilen der deutschen Medienwissenschaft aus – an diesen Qualitätsmängeln sind jedenfalls weder Medien noch Internet schuld.

Dass die Medien schließlich auf wichtige Ereignisse stärker reagieren als auf weniger prominente – ist das eine Verschwörung? Nein, das ist Wahrnehmungspsychologie. Ein übergriffiger Spitzenpolitiker löst eine Debatte aus – tausend kleine sexistische Übergriffe tun es nicht. Ein Flugzeugabsturz mit 200 Toten ist ein Ereignis – 200 Autounfälle in einer Woche nicht. Leider ist das so.

Der Zusammenbruch der Immobilienbank Hypo Real Estate (HRE) war so ein Ereignis – die jahrelangen Versäumnisse der deutschen Finanzaufsicht, die das möglich machten, waren eher keins. Immerhin: Sie wurden Thema eines Untersuchungsausschusses im Bundestag. Die Folge von Fehlentscheidungen der europäischen Politik, die zu der Euro-Krise führte, hat dagegen bisher kein Parlament systematisch aufgearbeitet – schon gar nicht das eigentlich dafür zuständige EU-Parlament. Daran haben sich nur einige Medien versucht, mit beträchtlichem Rechercheaufwand, auch der stern.

Ganz anders also als es die aktuelle Welle der Medienschelte möchte: Medien interessieren sich gelegentlich auch für Prozesse, die die offizielle Politik lieber ausblendet.

Die Medien machen jeden Tag viele Fehler. Journalisten sind häufig Opportunisten, manchmal schlampig, ab und zu mutig. Entlarvend etwa ein Zitat von Ole von Beust, ebenfalls gegenüber Pörksens Studenten: „Wenn die Journalisten einen mögen, wird man – oft auch unangemessen – gelobt. Aber wenn sie das Gefühl haben, jetzt sei ihre Zeit abgelaufen, werden sie für die selben Dinge in die Pfanne gehauen.“

Aber die Studenten hörten auch einen bedenkenswerten Satz des FDP-Politikers Wolfgang Kubicki: „Die meisten Menschen, die sich über die Medien beschweren, beschweren sich eigentlich über sich selbst.“

Den Satz formulierte er - natürlich - vor der Brüderle-Debatte.

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